Der nicht-kantische kategorische Imperativ
Giuseppe Delmestri, Wirtschaftsuniversität Wien
Märkte sind in horizontalen Produkt- und Organisationskategorien sowie in vertikalen Status-Hierarchien organisiert, die schwer zu verändern sind – dies wird der marktliche kategorische Imperativ genannt. Hochstatus-Kategorien sind in Industriegesellschaften sehr treibhausgasintensiv. Veränderung ist betriebswirtschaftlich möglich und ethisch notwendig, um den Klimanotstand beenden zu können.
Märkte funktionieren, weil sie in Kategorien organisiert sind, die erleichtern, Angebote zu finden sowie Qualität und Preise zu vergleichen. So können Patient*innen an bestimmte Fachärzt*innen weitergeleitet werden, oder Kund*innen in Supermärkten das Milchregal aufsuchen, um das richtige Angebot zu finden. Kategorien sind nicht ausschließlich das Produkt objektiver Merkmale, sondern werden von sozialen und politischen Prozessen mitdefiniert. Gehört Hafermilch in das Milchregal oder ist der Ursprung des Eiweißes (Tier oder Pflanze) ein fundamentales Merkmal der Kategorie? Und ist Osteopathie ein legitimes medizinisches Fachgebiet oder gehört sie der Alternativmedizin an? Solche Fragen werden ständig und heftig debattiert. Darüber hinaus sind bestimmte Organisationskategorien mit bestimmten Produktkategorien assoziiert: wenn z.B. in Österreich niemand bei der Aussage „Ich fahre zur Tankstelle, um Brot zu kaufen“ aufhorchen würde, würde dagegen so eine Aussage in Italien als völlig sinnlos erscheinen, weil dort die Organisationkategorie „Tankstelle“ nicht mit Lebensmitteln assoziiert wird. Das Unverständnis italienischer Kunden wäre ein Beispiel eines marktlichen kategorischen Imperativs: Unternehmungen, Produkte oder Dienstleistungen, die den zentralen Merkmalen einer etablierten Kategorie nicht entsprechen, leiden in der Regel unter mangelndem Verständnis, geringerem Zulauf, oder fehlender Anerkennung im Vergleich zu solchen, die dem etablierten Prototyp entsprechen. Würden Sie zur Pizzeria gehen, um Sushi zu essen? In Italien ja; dort haben Chinesen Pizzerie gegründet, die auch orientalische Speisen anbieten.
Solche ‚kategorische‘ Prozesse finden auch auf ‚vertikaler‘ Status-Ebene statt. So ist z.B. noch für breite Teile der Bevölkerung der Besitz eines Pkw von höherem Status gekennzeichnet als der Besitz einer ÖV-Jahreskarte. In einer Studie zur Neuordnung des Spirituosen-Marktes in Italien, habe ich gemeinsam mit Royston Greenwood (2017) zeigen können, dass ganze Kategorien ihr gesellschaftliches Prestige gezielt verändern können. So wurde Grappa dank folgender Strategien aus der Schmuddelecke billiger Kneipen gehievt und in die besten Restaurants und privaten Treffen gehoben: ästhetische und preisliche Distanzierung eines Premium-Produkts und seines Produzenten vom Rest der Kategorie; Nachahmung der Merkmale und Praktiken einer verwandten prestigereichen Kategorie (französischer Wein); Verbindung zu aufstrebenden Diskursen in der italienischen Gesellschaft (Slow Food und Design & Fashion). Diese drei Strategien stellten eine behutsame, softe Art dar, einen hohen Status anzustreben ohne eine direkte und unglaubwürdige Attacke auf die Platzhirsche im Markt zu riskieren. Ähnlich gehen einige Produzenten veganer Produkte vor, indem sie die farbenfrohe Ästhetik pflanzlicher Zutaten inszenieren, anstatt Fleischprodukte zu imitieren, und sich mit den aktuellen Nachhaltigkeits- und Gesundheitsdiskursen in Verbindung zu setzen.
Wenn wir als Gesellschaft den Klimanotstand abwenden wollen, brauchen wir eine radikale Umwandlung von Status-Hierarchien in Märkten. Organisationen aller Art unterliegen in dieser Ausnahmesituation dem kantischen ethischen Imperativ, nach derjenigen Maxime zu handeln, die als allgemeines Gesetz gelten kann. Fadenscheinige Ausreden, vorher auf politische Rahmenbedingungen oder auf das Vorschreiten noch größerer Treibhausgasemittenten warten zu wollen, sind nicht mehr zulässig. „Ändert sich nichts, ändert sich alles.“ (K. Rogenhofer und F. Schlenderer).