Von der Organisation zur Organisationalität
Ein Plädoyer für die Erweiterung der Organisationsforschung
David Seidl, Universität Zürich
Leonhard Dobusch, Universität Innsbruck
Dennis Schoeneborn, Copenhagen Business School & Leuphana Universität Lüneburg
Verschiedene Organisationsforscherinnen und Organisationsforscher plädieren dafür, den klassischen Begriff der „Organisation“ durch den Begriff der „Organisationalität“ zu ersetzen – weg von der Bezeichnung eines Sozialsystemtypus zur Bezeichnung einer mehr oder weniger ausgeprägten Eigenschaft von Sozialsystemen. Mit dieser Umstellung des Organisationsbegriffs geht eine Erweiterung des Gegenstandsbereichs der Organisationsforschung einher. Sie lässt sich damit auf alle Sozialsysteme anwenden, sofern sie einen gewissen Grad an Organisationalität aufweisen.
Der Gegenstandsbereich der betriebswirtschaftlichen Organisationsforschung ist die Organisation. Was jedoch unter dem Begriff der Organisation zu verstehen ist, wird unter Organisationsforscherinnen und -forschern kontrovers diskutiert. Betrachtet man die Entwicklung des Organisationsbegriffs, so lassen sich drei verschiedene Bedeutungen unterscheiden: (1) Organisation als ein Systemtyp, (2) Organisation als Tätigkeit des Organisierens und neuerdings (3) Organisation als eine Eigenschaft. Je nach Organisationsbegriff ergeben sich engere oder weitere Disziplingrenzen. Der erste Begriff, welcher auch der klassischen Organisationsforschung zu Grunde liegt, ist am vergleichsweise engsten gefasst. Er grenzt die Disziplin auf einen besonderen Typ sozialer Systeme ein, nämlich der „formalen Organisation“, welche über verschiedene Merkmale definiert werden können. In der BWL wurde Organisation beispielsweise an das Vorliegen einer Verfassung (Werner Kirsch) oder das gleichzeitige Vorliegen von Zweckorientierung, geregelter Arbeitsteilung und beständigen Grenzen (Georg Schreyögg) geknüpft. Auch wenn die Ansichten zu den Definitionsmerkmalen variieren, wird der Gegenstandsbereich der Organisationsforschung damit klar gegenüber anderen sozialen Phänomenen abgrenzt.
Mit den Arbeiten des Organisationsforschers Karl Weick hat der zweite Organisationsbegriff an Prominenz gewonnen. Dieser versteht Organisation als Aktivität oder Prozess des Organisierens. Dabei geht es nicht allein um die klassische Managementfunktion im Sinne der Gestaltung von Strukturen und Prozessen, sondern um jegliche Form des Organisierens unabhängig davon, ob es in einer formalen Organisation stattfindet oder nicht. Diese Begriffsumstellung hat u.a. den Vorteil, dass sich damit auch neuere Formen des Organisierens, wie soziale Bewegungen oder Online-Communities, im Rahmen der Organisationsforschung erfassen lassen. Der Preis für diese Erweiterung des Organisationsbegriffs ist jedoch ein Verlust seiner analytischen Schärfe; letztlich kann jegliche Form sozialer Interaktion als Form des Organisierens verstanden werden, weshalb der Begriff der Organisation mit dem des Sozialen allgemein zusammenzufallen droht.
Das in den letzten Jahren aufgekommene Verständnis von Organisation im Sinne von Organisationalität ist genau auf dieses Dilemma gerichtet. Es versucht den Organisationsbegriff zu erweitern, ohne zugleich auf analytische Schärfe verzichten zu müssen. Hierbei wird Organisationalität als eine Eigenschaft sozialer Systeme gefasst, welche unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann. Der Organisationsforscher Nils Brunsson macht – durchaus ähnlich dem organisationssoziologischen Ansatz Niklas Luhmanns – Organisationalität am Grad der Entscheidungsbasiertheit eines sozialen Systems fest, welches von anderen Autoren noch um weitere Aspekte wie die kollektive Akteurshaftigkeit ergänzt wurde.1 Je mehr Elemente eines Systems auf explizite Entscheidungen zurückzuführen sind und je mehr Akteurs-Charakter das System aufweist, desto „organisationaler“ ist es. In diesem Sinne lassen sich ein breites Spektrum sozialer Systeme, seien es Familien, Terrornetzwerke, Unternehmen, Online-Communities oder Warteschlangen, hinsichtlich ihres Grades an Organisationalität vergleichen.
Für die Organisationsforschung birgt diese Begriffsverschiebung wichtige Implikationen. So erweitert sich ihr Gegenstandsbereich letztlich auf den gesamten Bereich des Sozialen. Aber anders als beim prozessualen Organisationsbegriff bezeichnet die Organisationalität nicht einfach Sozialität im Allgemeinen, sondern lediglich einen spezifischen Aspekt allgemeiner Sozialität. In diesem Sinne liegt es im Aufgabenbereich der Organisationsforschung aufzuzeigen, welche Konsequenzen ein niedrigerer oder höherer Grad an Organisationalität für einen bestimmten Bereich des Sozialen hat, und welche Faktoren gegebenenfalls den Grad der Organisationalität beeinflussen. Damit kann die Organisationsforschung auch einen wichtigen Erkenntnisbeitrag für weitere Bereiche der Sozialwissenschaften leisten2, die jenseits ihres angestammten Forschungsgegenstands liegen.
David Seidl Leonhard Dobusch Dennis Schoeneborn
Quellenangaben:
1 Siehe G. Ahrne, & N. Brunsson (2011) Organization outside organizations: The significance of partial organization. In: Organization, 18(1), 83-104 und L. Dobusch & D. Schoeneborn (2015) Fluidity, identity, and organizationality: The communicative constitution of Anonymous. In: Journal of Management Studies, 52(8), 1005-1035.
2 Siehe G. Ahrne, N. Brunsson & D. Seidl (2016) Resurrecting organization by going beyond organizations. In: European Management Journal 34(2): 93-101