Entkopplung
Peter Walgenbach, Friedrich-Schiller-Universität Jena
Entkopplung von formaler Organisationsstruktur und tatsächlichen Arbeitsprozessen bezeichnet ein Mittel, mit dem Unternehmen den Erwartungen externer Anspruchsgruppen genügen können und das zugleich eine weitgehend ungehinderte Verfolgung der Ziele des Unternehmens ermöglicht.
Der Begriff „Entkopplung“ beschreibt in idealtypischer Weise ein weltweit beobachtbares Phänomen, das sich bei den Akteuren der Moderne (Meyer & Jepperson, 2000), nämlich Individuen, Organisationen und Nationalstaaten, zeigt. Mit Blick auf Organisationen ist mit diesem Begriff gemeint, dass beispielsweise Unternehmen von bedeutenden Anspruchsgruppen als rational angesehene und als selbstverständlich erachtete formale Strukturelemente (Programme und Regelwerke wie Diversity Management oder ISO 9000) adoptieren, die Steuerung der zentralen Arbeitsprozesse oder des Verhaltens der Unternehmung durch eben diese Elemente jedoch zu vermeiden versuchen (Meyer & Rowan, 1977). Die Übernahme dieser Strukturelemente dient also im Kern nicht dazu, die Ziele dieser Programme und Regelwerke verhaltenswirksam in der Organisation zu verankern. Formale Struktur verbleibt entkoppelt.
Die nur vordergründige Erfüllung der Erwartungen in der Umwelt erfordert teilweise einen beträchtlichen Ressourceneinsatz und verlangt häufig ein erhebliches kreatives Potenzial auf Seiten der Organisation. Es gilt eine Fassade aufzubauen, welche die Organisation vor kritischen Infragestellungen schützt und sie so vor dem Entzug einer gesellschaftlich zugesprochenen Legitimität bewahrt (Stichwort: Greenwashing). Denn Legitimität ist für den Zufluss knapper Ressourcen (Kundenzahlungen, Bankkredite, staatliche Subventionen usw.) und damit für das Überleben der meisten Organisationen zentral.
Die weite Verbreitung des Phänomens der Entkopplung ist ganz wesentlich durch die zunehmende Ausdifferenzierung der Gesellschaft bedingt. Diese Ausdifferenzierung befördert zum einen das zunehmende Auftreten von Widersprüchen und Konflikten zwischen einer intern als technisch effizient angesehenen Leistungserstellung und den unterschiedlichen Erwartungen in den verschiedenen, sich immer weiter ausdifferenzierenden, Bereichen der Umwelt der Organisation. So hat sich etwa die Anzahl der aus Sicht von Unternehmen relevanten Anspruchsgruppen in den letzten Jahrzehnten dramatisch erhöht. Zum anderen befördert die zunehmende Ausdifferenzierung der Gesellschaft Inkonsistenzen zwischen den Erwartungen innerhalb der einzelnen Umweltbereiche der Organisation.
Durch die Entkopplung dieser aufgrund von externen Erwartungen adoptierten Elemente der formalen Struktur von den tatsächlichen Arbeitsaktivitäten und dem Verhalten der Organisation gelingt es Organisationen, die zunehmende Komplexität in ihrer Umwelt zu bewältigen. Durch Entkopplung ist es beispielsweise möglich, sich gleichzeitig zu einem „agilen Management“ zu bekennen und immer weitere standardisierte Managementsysteme zu adoptieren, die mit dem Aufbau zusätzlicher „bürokratischer Regeln“ einhergehen. Unternehmen – aber auch andere Organisationen – signalisieren durch die oberflächliche Verwendung eines „legitimen Vokabulars“ oder „legitimer Symbole“ (z.B. auf Webseiten, in Geschäfts- und CSR-Berichten usw.), dass ihre formale Struktur eine Übereinstimmung mit den in der Umwelt als angemessen geltenden „Standards“ aufweist.
Durch die Adoption extern als selbstverständlich angesehener, aber entkoppelt verbleibender Strukturelemente schützen Organisationen ihre zentralen Aktivitäten vor möglichen Einblicken durch Externe und bewahren – solange das Vertrauen in die Wirksamkeit der in die formale Struktur übernommenen Elemente etwa durch rituelle Beglaubigungsprozesse (z.B. Audits) aufrechterhalten werden kann – die Organisation vor einer in die Tiefe gehenden externen Evaluation. Entkopplung ermöglicht es Organisationen, ihre Ziele, die durch das jeweilige Funktionssystem der Gesellschaft (z.B. Wirtschaft), innerhalb dessen sie operieren, vorgegeben sind (Luhmann, 1984), ohne intern wirksam werdende Zielkonflikte zu verfolgen.
Peter Walgenbach, Friedrich-Schiller-Universität Jena
Quellenangaben:
Luhmann, N. (1984). Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie. Suhrkamp.
Meyer, J. W., & Jepperson, R. L. (2000). The ‘actors’ of modern society: The cultural construction of social agency. Sociological Theory, 18(1), 100-120.
Meyer, J. W., & Rowan, B. (1977). Institutionalized organizations: Formal structure as myth and ceremony. American Journal of Sociology, 83(2), 340-363.