100 Jahre VHB und 100 Jahre Hans Albert – Werturteile in der Wissenschaftstheorie des Kritischen Rationalismus und in der BWL

Michaela Haase, Freie Universität Berlin

Hans Albert hat den Kritischen Rationalismus (KR) in Deutschland vertreten und entscheidend dazu beigetragen, dass dieser in der BWL einen festen Platz einnehmen konnte. Der Beitrag würdigt die Rolle Hans Alberts für die Entfaltung des KR in der BWL mit besonderem Blick auf das Werturteilsfreiheitsprinzip.

Nicht nur der 100. Geburtstag des VHB ereignet sich in diesem Jahr, derjenige von Hans Albert hat sich bereits ereignet. Hans Albert hat die Philosophie des Kritischen Rationalismus und ihres Begründers Karl Popper in Deutschland streitbar vertreten und weiterentwickelt. Albert hat sich für die Aufhebung der Fächergrenze zwischen Soziologie und Ökonomik bzw. empirische Gesellschaftswissenschaft1 und gegen das Denken in Modellen in der Wirtschaftswissenschaft eingesetzt. In der BWL hat er großen Einfluss erlangt und das Selbstbewusstsein des Fachs als Wissenschaft befördert. Er hat sich mit Themen befasst, die auch heute noch Relevanz besitzen, wie z.B. Wissenschaftlichkeit, Fallibilismus und Kritik. Der Kritische Rationalismus hatte den Anspruch, den Fachwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern zu sagen, wie sie ‚richtig‘, d.h. im Einklang mit der ‚rationalen Methode‘ zu forschen haben. Die zeitgenössische Wissenschaftstheorie ist für viele Betriebswirtinnen und Betriebswirte weniger sichtbar geworden. Dies liegt auch daran, dass sie eigene Probleme bearbeitet und keine normativen Ansprüche gegenüber den Fachwissenschaften formuliert.

100 Jahre ist, wie Hegselmann mit Blick auf Albert feststellt, „wirklich alt“. Das trifft dann wohl auch auf den VHB zu. Der VHB ist aber deutlich jünger als der 1873 gegründete Verein für Socialpolitik (VfS). Das fachliche Selbstverständnis und die fachliche Entwicklung der BWL ist auch von den Kontroversen geprägt, die bereits im VfS geführt wurden. Neben dem Methodenstreit ist hier die Kontroverse über das Werturteilsfreiheitspostulat von Max Weber zu nennen. Albert war der Auffassung, dass Werte wohl in die Bestimmung des Gegenstandsbereichs einer Wissenschaft eingehen dürfen, also unvermeidlich sind, wenn es darum geht, zu entscheiden, womit sich eine Wissenschaft beschäftigen möchte. Bei der Formulierung von Aussagen dagegen sind sie in den Erfahrungswissenschaften zu vermeiden. Dennoch lassen sich die Erkenntnisse einer wertfreien Wissenschaft nach Albert zur Veränderung der Gesellschaft nutzen.

In jüngerer Zeit mehren sich die Stimmen, die die Wissenschaft „as a force for the good“2 betrachten. Dies ist ein guter Grund, sich erneut mit der Albertschen Position (und ganz im Sinne von Hans Albert: kritisch) zur Werturteilsfreiheit zu befassen. So wird Wertfreiheit nicht durch die Abwesenheit von Wertausdrücken in Sätzen garantiert. In der BWL enden zudem viele Veröffentlichungen mit sog. Managementimplikationen oder Empfehlungen, die kaum je auf ihre Wertgrundlage hinterfragt werden.3 Das Wertfreiheitsprinzip bedeutet aber nicht, dass man sich nicht mit Werten befassen darf, schon gar nicht mit den eigenen, denn die wissenschaftliche Praxis der BWL ist von epistemischen (z.B. Wahrheit) wie nicht epistemischen Werten (z.B. Effektivität und Effizienz) geleitet.

Michaela Haase, Freie Universität Berlin


Quellenangaben:


Hegselmann, Rainer (2021): Zum 100. Geburtstag von Hans Albert. 8. Februar 2021. https://www.gap-im-netz.de/de/mitteilungen.html.

Mende, Martin/Scott, Maura L. (2021): May the Force be with You: Expanding the Scope of Marketing Research as a Force for Good in a Sustainable World. Journal of Public Policy and Marketing, 40(2), S. 116-125.

Nienhüser, Werner/Matiaske, Wenzel (2021): Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Ideologie und Ökonomie. Marburg: Metropolis, S. 7-19.