Der Nikolaus-Effekt

Christina Hoon, Universität Bielefeld

Der Nikolaus-Effekt (auch Recency-Effekt genannt) bezeichnet das Phänomen, dass frische Eindrücke besser haften bleiben und bei Beurteilungen mehr zählen als ältere. Wenn in einem jährlichen Beurteilungsgespräch die Leistungen von Beschäftigten bewertet werden sollen, kann der Nikolaus-Effekt zu einer verzerrten Leistungsbewertung führen.

Aber warum heißt diese Verzerrung in der Wahrnehmung von Leistungen Nikolaus-Effekt?

Wenn der Nikolaus die kleinen Kinder am 6. Dezember (Nikolaustag) fragt, ob sie artig gewesen seien, beantworten sie die Frage mit einem vollmundigen „Ja“. Die Kinder tendieren dazu, sich an ihr Benehmen aus der kürzeren Vergangenheit zu erinnern – ca. aus den letzten drei Tagen -, und zu vergessen, das Verhalten des gesamten Jahres zu berücksichtigen.

Der Nikolaus-Effekt verdeutlicht, dass Leistungen aus der kürzeren Vergangenheit der Führungskraft besser im Gedächtnis präsent sind als die aus einem längeren Betrachtungszeitraum. Studien konnten zeigen, dass Beurteilungszeiträume von einem oder zwei Jahren für das menschliche Gedächtnis eine Herausforderung darstellen. Zu einer positiven Beurteilungsverzerrung kommt es also, wenn Personen kurz vor dem jährlichen Beurteilungszeitpunkt ihr Engagement beträchtlich steigern. Die frischen, letzten Eindrücke führen dann zu einer Überbewertung. Zu einer negativen Beurteilungsverzerrung trägt bei, wenn Beschäftigte kurz vor der Beurteilung „einen Bock schießen“ und der kürzliche Eindruck dieses Fehlverhaltens die Gesamtleistung des Jahres unterbewertet.

Aus der Wahrnehmungspsychologie ist bekannt, dass jede Beurteilung subjektive Elemente enthält, die sich nicht ausschließen lassen. Ein Individuum bildet in seinem Kopf nicht die Wirklichkeit ab, sondern es konstruiert diese auf der Grundlage eigener Erwartungen und Erfahrungen. Wahrnehmungstäuschungen wie der Nikolaus-Effekt sind intensiv erforscht. Diese Täuschungen treten nicht nur im Verhalten eines Beurteilenden auf: Immer, wenn wir uns einen Eindruck über andere Personen verschaffen, besteht die Gefahr, solchen Wahrnehmungsfallen zu erliegen. Diese Wahrnehmungstäuschungen laufen dabei meist unbewusst ab.

Das Wissen um diesen Effekt ist jedoch hilfreich, um sich eine mögliche Verzerrung bewusst zu machen und sie hierdurch einzugrenzen. In jährlichen Mitarbeiter- und Leistungsbeurteilungsgesprächen nutzen Unternehmen daher kontinuierliche schriftliche "Gedächtnisstützen", um sich vor diesem Vergessenseffekt zu schützen. Auf dieser Basis lassen Führungskraft und Mitarbeitende in einem Beurteilungsvorgespräch den gesamten Beurteilungszeitraum noch einmal Revue passieren. Diese gemeinsame Gedächtnisauffrischung soll dazu beitragen, Leistungen der gesamten Betrachtungsperiode zu berücksichtigen, also auch die, die aus der älteren Vergangenheit stammen.

Und wie sorgt der Nikolaus vor, um nicht bei seinem jährlichen Erscheinen einem Beurteilungsfehler zu unterliegen? Er hat deshalb bei diesen Gesprächen sein goldenes, über das gesamte Jahr akribisch geführtes Buch dabei.

 

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Literatur: Becker, Fred G. & Berthel, Jürgen 2017: Personal-Management. Grundzüge für Konzeptionen betrieblicher Personalarbeit. Stuttgart: Schäffer-Poeschel, 11. Auflage.