Process Science: Gemeinsam Wandel verstehen und gestalten

Jan vom Brocke, Universität Liechtenstein

Process Science ist ein interdisziplinäres Wissenschaftsgebiet, das versucht, die vielfältigen Veränderungen unserer Welt zu verstehen und daraus Gestaltungsempfehlungen für Wirtschaft, Gesellschaft und Politik abzuleiten. Process Science rückt Prozesse in den Mittelpunkt, um Veränderungen in verschiedenen Bereichen und auf verschiedenen Ebenen zu konzeptionalisieren. Dabei zieht Process Science Beiträge und Erkenntnisse verschiedener Disziplinen zusammen – wie der Betriebswirtschaftslehre, der Psychologie, den Naturwissenschaften und der Informatik – um Prozesse ganzheitlich zu erfassen, begreifen und verändern zu können.

Betrachten wir die Dramatik des Wandels in Wirtschaft und Gesellschaft, so sollte Forschung genau diesen „Wandel“ in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken. Lange wurden Systeme erforscht, z.B. von und in Organisationen, die wir jeweils anhand von Einheiten und Beziehungen zwischen diesen Einheiten betrachteten. Veränderung wurde als Übergang von einem zu einem anderen Zustand solcher Systeme verstanden. Heute sehen wir, dass es immer mehr Veränderungen gibt, die wir nicht als Übergang von dem einen (geplanten) Zustand zu dem anderen (geplanten) Zustand erklären können. Wir finden uns permanent in ganz neuen, unvorhergesehenen Zuständen – und auch das meist nur für eine kurze Zeit, bis die Reise schon wieder weiter geht und sich der Wandel fortsetzt.

Auch die (gewohnten) Grenzen scheinen immer mehr zu verschwimmen, wenn unser Handeln aus bestehenden Organisationen hinauswächst und wir ganz alltäglich Dienste zahlreicher Anbieter über diverse Kanäle nutzen. „Gibt es eigentlich eine Weihnachtsfeier für Uber Fahrer?“, habe ich einmal in einem Tweet gelesen, und diese humorvolle Frage drückt die Verselbständigung von Prozessen in unserer heutigen Welt sehr schön aus. Wir sehen auch, wie ungeplante, natürliche Entwicklungen unser Handeln immer mehr beeinflussen, wie es uns nicht zuletzt die Pandemie zeigt. Diese Entwicklungen stehen – auch wenn sie kurzfristig als unvorhergesehen erscheinen – doch auch ursächlich mit unserem Handeln in Verbindung. Process Science möchte solche Zusammenhänge erkennen und erklären und sodann auch aus den gewonnenen Erkenntnissen Handlungsempfehlungen ableiten (vom Brocke et al. 2021).

Heraklit wird gerne dafür zitiert, dass ein Mensch nie zweimal in den gleichen Fluss hineinsteigt – erstens da es nicht der gleiche Fluss ist und zweitens, da es nicht der gleiche Mensch ist. Die Gedanken hinter Process Science, die Welt und deren Phänomene im Sinne von dynamischen Prozessen zu begreifen, sind also nicht gänzlich neu (Pentland et al. 2021). Zwei Gründe sprechen aber dafür, dass wir uns gerade heute mit Process Science befassen: zum einen die gewachsene Bedeutung von Wandel und zum anderen die neuen Möglichkeiten, Wandel zu untersuchen. Heute – so kann etwas provokativ gesagt werden – ist Wandel von weit größerer Bedeutung als Stabilität. Was passiert, wenn wir aufhören, in Zuständen von Systemen zu denken (und von dort aus versuchen, Veränderungen zu verstehen)? Was, wenn wir zuerst in Prozessen denken, um ganzheitlich aufzunehmen, was in der Welt vor sich geht? Innovative Technologie macht dies heute möglich, indem wir beispielsweise über Sensornetzwerke Echtzeitdaten erfassen können – etwa über Abläufe, über die Umwelt, über Empfindungen, Meinungen, und vieles mehr – und diese auswerten können, um neuartige Erkenntnisse über Prozesse zu gewinnen (Grisold et al. 2020).

Die Grundprinzipien von Process Science zeigt der Ordnungsrahmen in Abb. 1. Process Science (1) rückt Prozesse verschiedener Art in den Fokus (2) und zieht Beiträge verschiedener Disziplinen heran (3), mit dem Ziel, Prozesse zu erkennen, zu erklären und zu beeinflussen. Process Science bietet eine frische Perspektive und lädt Interessentinnen und Interessenten verschiedener Sektoren und Disziplinen ein, sich an der Erforschung des kontinuierlichen Wandels zu beteiligen. Gerade für eine moderne Betriebswirtschaftslehre von hoher gesellschaftlicher Relevanz kann diese Perspektive wichtige Impulse setzen. Haben wir uns die vergangenen 100 Jahre vor allem mit Systemen befasst, so sollten wir uns in den nächsten Jahren vor allem den Prozessen widmen.

Jan vom Brocke, Universität Liechtenstein
          

Quellenangaben:

Grisold, T., Wurm, B., Mendling, J., vom Brocke, J. (2020). Using process mining to support theorizing about change in organizations. In: Proceedings of the 53rd Hawaii International Conference on System Sciences.

Pentland, B., Vaast, E., Ryan Wolf, J. (2021). Theorizing process dynamics with directed graphs: A diachronic analysis of digital trace data. MIS Quarterly, 45(2), 967-984.

vom Brocke, J., van der Aalst, W.M.P, Grisold, T., Kremser, W., Mendling, J., Pentland, B., Recker, J., Roeglinger, M., Rosemann, M., Weber, B. (2021). Process Science: The Interdisciplinary Study of Continuous Change. Working Paper, available at SSRN Electronic Library.