Organisationale Pfadabhängigkeit

(†) Georg Schreyögg, Freie Universität Berlin/Universität Graz

Jörg Sydow, Freie Universität Berlin

Jochen Koch, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder

Warum fällt es vielen etablierten Unternehmen und auch anderen Arten von Organisationen so schwer, grundlegende Veränderungen durchzuführen, selbst wenn diese dringend notwendig – ja oftmals unausweichlich – erscheinen? Dies kann an organisationalen Pfadabhängigkeiten liegen. Diese zu verstehen ist gerade in Zeiten grundlegender Transformationsprozesse wichtig. Nur so wird deutlich, unter welchen Bedingungen der Wandel einzelner Organisationen – oder auch interorganisationaler Arrangements (z.B. Allianzen, Cluster oder Netzwerke) – schwierig, manchmal sogar unmöglich ist.

Wie kommt es dazu, dass Strukturen und Prozesse in Unternehmen und anderen Arten von Organisationen, aber auch in Netzwerken, Wirtschaftssystemen und der Gesellschaft insgesamt, so stabil werden, dass sie kaum oder nur noch mit sehr großen Anstrengungen überhaupt zu verändern sind, und wie lässt sich das oft rätselhaften Festhalten an suboptimalen Lösungen trotz effizienterer Alternativen am Horizont besser verstehen und erklären? Mit der Theorie der organisationalen Pfadabhängigkeit hat sich ein systematischer Erklärungsansatz herausgebildet, der die zugrundeliegenden Wirkungsmechanismen nicht nur in ihren Effekten, sondern aus ihren dynamischen Entstehungszusammenhängen beleuchtet. Im Mittelpunkt der Theorie steht somit die prozessuale Erklärung von Persistenzen ineffizienter Ergebnisse, deren Ursachen nicht, wie häufig der Fall, auf persönliches Versagen der Handelnden alleine, sondern auf die spezifischen Eigenschaften, die diesen Entwicklungsprozessen innewohnen, zurückgeführt werden können.

Das Ergebnis eines pfadabhängigen Prozesses ist somit weniger von seinen Anfangsbedingungen bestimmt, als vielmehr vom konkreten Verlauf, den der Prozess nimmt und ist folglich ein Produkt seiner Geschichte („history matters“). Dabei wird davon ausgegangen, dass oftmals auch sehr zufällige Ereignisse und Nebenwirkungen von Entscheidungen dazu führen, dass ein solcher Prozess in Gang gesetzt wird (critical juncture) und sich selbst immer weiter verstärkt, bis er schließlich in einem Lock-in, d.h. einer Situation, in der es nur noch sehr wenige Handlungsmöglichkeiten gibt und ein System stark determiniert ist, endet. Die Theorie bietet dafür eine prozessuale Perspektive in drei Phasen an (siehe Abbildung) und erklärt, wie aus anfänglich offenen Entscheidungs- und Handlungssituationen mit vielen Optionen (Phase 1) durch spezifische Mechanismen und ihrem Zusammenwirken (Phase 2) schließlich Situationen entstehen, in denen Systeme nur noch sehr wenige Handlungsoptionen haben (Phase 3).

Im Zentrum stehen dabei selbstverstärkende Mechanismen, d.h. positive Rückkopplungseffekte, die sich analytisch und im Hinblick auf ihre unterschiedliche Wirkungsweise in Komplementaritäts-, Koordinations-, Lern- und Erwartungserwartungseffekte differenzieren lassen. Je stärker solche positiven Rückkopplungseffekte die Wahrscheinlichkeitsverteilung zugunsten eines Prozessergebnisses beeinflussen, desto größer wird im Prozessverlauf auch die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Prozessergebnis am Ende realisiert wird. Es sind diese – realiter oftmals – ineinander verschränkten Rückkopplungsmechanismen und die durch sie konstituierten Handlungsmuster, die es Akteuren in Unternehmen und Organisationen zunehmend erschweren, vom Pfad abzuweichen und andere Handlungsoptionen zu ergreifen, selbst wenn diese mittlerweile sinnvoller sind.

In der Konsequenz verfestigen sich somit einmal eingeschlagene Wege, etwa in Form einer bestimmten strategischen Ausrichtung, eines etablierten Geschäftsmodells oder einer spezifischen Kooperationsform zwischen zwei Abteilungen (z.B. Marketing und Forschung & Entwicklung) oder auch zwischen Organisationen. Folglich bestimmen damit vergangene Entscheidungen zunehmend die Richtung, in die sich eine Organisation zukünftig bewegt. Als bekannte Beispiele für Unternehmen, die in eine solche Pfadabhängigkeit entwickelt haben, lassen sich etwa IBM, Quelle, Schlecker oder auch der Bertelsmann Buchclub anführen. Pfadabhängigkeit führt allerdings nicht notwendigerweise in die Insolvenz. Manifest problematisch werden Pfade immer erst, wenn sich Umweltbedingungen – z.B. die Durchsetzung des Online-Handels – verändern. Insofern erfasst die Theorie der Pfadabhängigkeit auch zwei strikt zu unterscheidende Kipppunkte: zum einen den Lock-in, in dem ein System seinen Handlungsspielraum soweit eingebüßt hat, dass es ohne besondere Anstrengungen und (exogene) Unterstützung den Pfad nicht mehr verlassen kann; zum anderen den sogenannten rationality shift, d.h. der Zeitpunkt ab dem ein Pfad ineffizient wird. Letzterer kann sowohl vor, aber auch fataler Weise nach einem Lock-in liegen und kann dann nur noch durch Pfadbrechung überwunden werden.

 

(†) Georg Schreyögg, Freie Universität, Berlin

Jörg Sydow, Freie Universität Berlin

Jochen Koch, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder

          

Literaturhinweise

David, P. A. (1985). Clio and the economics of QWERTY. American Economic Review, 75, S. 332–337.

Sydow, J., Schreyögg, G., & Koch, J. (2009). Organizational path dependence: Opening the black box. Academy of Management Review, 34(4), S. 689–709.

Sydow, J., Schreyögg, G., & Koch, J. (2020). On the theory of organizational path dependence: Clarifications, replies to objections, and extensions. Academy of Management Review, 45(4), S. 717-734.