Bilanz und Bilanztheorie
Rolf Uwe Fülbier, Universität Bayreuth
Auch über 500 Jahre nach Luca Paciolis Beschreibung der doppelten Buchführung und Bilanzierung bleibt die Grundidee einer Bilanz einfach und genial: Das investierte Vermögen steht als Mittelverwendung auf der linken (Aktiv-)Seite; die Finanzierung als Mittelherkunft auf der rechten (Passiv-)Seite.
Was denn genau das Vermögen ausmacht und über welches Kapital man es finanzieren kann, wandelt sich allerdings. Waren es in Zeiten der Industrialisierung z.B. tangible Produktionsfaktoren, die das Vermögen wesentlich bestimmten, so rückt der Fokus in der modernen Dienstleistungs- und Hochtechnologiegesellschaft deutlich in Richtung immaterieller Werte. Selbstredend wirken sich auch Klimakrise und nachhaltiges Wirtschaften auf heutige Bilanzen aus: Umweltrisiken und andere negative Externalitäten können nicht mehr ignoriert werden und schlagen sich immer stärker in Bilanzen nieder, z.B. auf der Passivseite in den Rückstellungen. Neue, innovative Geschäftsmodelle drücken sich eher auf der Aktivseite aus, z.B. in den aktivierten Entwicklungsprojekten und Patenten oder in der zunehmenden Goodwill-Position aus M&A-Transaktionen.
Die Breite möglicher Fragen und spannender Herausforderungen in der Bilanzierung ist gerade in Zeiten disruptiver, digitaler Entwicklungen immens: Was ist denn die ökonomische Einheit, deren Aktiva und Passiva abzubilden sind? Neben oder sogar innerhalb „klassischer“ Unternehmens- oder Konzernstrukturen entstehen „agile“ Organisationsformen zwischen Markt und Unternehmen, wie z.B. Zweckgesellschaften, Plattformgeschäftsmodelle oder „Open Source Communities“. Die Bilanzierung beantwortet hier nicht alle Fragen, zwingt aber zur Auseinandersetzung: Wer hat hier eigentlich was zu bilanzieren? Damit einher gehen die ewig jungen und keineswegs trivialen Fragen der Bilanzierung: Was ist das Vermögen und welchen Wert hat es, welche Schulden drücken und was bleibt als Eigenkapital? Vor allem: Wem gegenüber dient die Bilanz (und andere Rechenwerke wie die Gewinn- und Verlustrechnung sowie Kapitalflussrechnung) als Berichtsinstrument und für welchen Zweck?
Die betriebswirtschaftliche Bilanzforschung widmet sich seit mehr als 100 Jahren diesen Fragen. Heute dominiert weltweit zwar eher die positiv-empirische Forschung, in der nach Erklärungsmustern für ein Bilanzierungsverhalten gesucht oder dessen Wirkung auf Adressaten z.B. auf den Kapitalmärkten analysiert wird. Es war und ist aber immer auch ein gewisses Alleinstellungsmerkmal der betriebswirtschaftlichen deutschsprachigen Bilanzforschung, normative Fragen nach dem Sinn, der Ausgestaltung und Fortentwicklung der Bilanzierung (und des Bilanzrechts) zu untersuchen. In Abgrenzung zu der Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen Fortführungsstatik war es insbesondere Eugen Schmalenbach mit seiner dynamischen und Fritz Schmidt mit der organischen Bilanztheorie, die die konzeptionelle Diskussion auf ein neues Niveau hoben und deren herausfordernde Denkweisen über die Jahrzehnte nichts von ihrer Strahlkraft verloren haben. Beide Forscher haben übrigens in den 1930ern in den damals aus deutscher Sicht nicht ganz so ernst genommen US- „Top-Journals“ veröffentlicht. So verwundert es nicht, dass Bilanztheorien später (!) auch im anglo-amerikanischen Accounting Research ihren Widerhall gefunden haben und heute auch das US-amerikanische und internationale Standardsetting prägen.
Eine Kombination von positiv-empirischer und normativ-konzeptioneller Bilanzforschung scheint heute nötig, um die großen Herausforderungen der Digitalisierung und des Klimawandels und der damit einhergehenden Disruptionen zu bewältigen. Bilanzen werden sich fortentwickeln! Welche Zwecke und Prinzipien dabei im Vordergrund stehen, welche Standardsetzer national und international agieren, welche rechnungslegende Einheit zu wählen und abzugrenzen ist, wie die Rechenwerke auf der Basis welcher Standards zu befüllen sind, wie finanzielle und nicht-finanzielle Informationen zusammenwirken, welchen Aggregationsgrad sie haben, wie großen Datenmassen in Echtzeit aufbereitet, geprüft und (digital) zur Verfügung gestellt werden – das bleiben die immer wieder neu zu analysierenden Fragen der betriebswirtschaftlichen Bilanzforschung – jetzt und in Zukunft.