Erfindungen (in) der Betriebswirtschaftslehre
Plädoyer für eine technikaffine Forschung und Lehre
Martin G. Möhrle, Universität Bremen
Die Betriebswirtschaftslehre besitzt eine wichtige technikaffine Seite. Sie spiegelt sich im Umgang mit Erfindungen, die in allen betriebswirtschaftlichen Teildisziplinen zu finden sind. Gerade mit dem Blick auf die Zukunft sollte technikaffines Denken integraler Bestandteil betriebswirtschaftlicher Forschung und Lehre sein.
Viele nehmen die Betriebswirtschaftslehre als Sozialwissenschaft wahr, deren Augenmerk auf die konzeptionelle und empirische Erforschung unternehmerischer Verhaltensweisen und auf die Entdeckung der dabei wirkenden Zusammenhänge und Kausalitäten gerichtet ist. Dies ist sicher richtig, aber die Betriebswirtschaftslehre besitzt zudem eine wichtige technikaffine Seite, die sich mit Methoden, mit Problemlösungen und – vielleicht für manche überraschend klingend – mit Erfindungen beschäftigt.
Alle Teilgebiete der Betriebswirtschaftslehre sind durch wegweisende Erfindungen geprägt. Anhand eines Erfindungsverfahrens sei gezeigt, wo und in welcher Ausgestaltung dies der Fall ist. Ein Erfindungsverfahren ist eine abstrahierte Denkweise, die in konkreter Form schon für zahlreiche Erfindungen angewendet worden ist. Genrich Altschuller, der Begründer des methodischen Erfindens, hat durch langjährige intensive Forschung insgesamt 40 solcher Erfindungsverfahren herausgearbeitet1. Eines der prominentesten ist das Erfindungsverfahren der Zerlegung, bei dem - abstrakt gesprochen - ein Objekt in Teile zerlegt wird, und wenn es bereits in Teile zerlegt worden ist, der Grad der Zerlegung erhöht wird.
Dieses Erfindungsverfahren findet sich beispielhaft in der Finanzwirtschaft, in der Produktion und im Marketing wieder:
- Eines der eindrucksvollsten Beispiele zeigt sich in der Finanzwirtschaft mit der Erfindung der Aktien. Hier wird das Eigenkapital eines Unternehmens in kleine, gleichgroße Stücke zerlegt, die unabhängig voneinander erworben, verkauft, beliehen etc. werden können. Wo früher die Auseinandersetzung mit wenigen, zumeist großen Kapitaleignern notwendig war, ermöglicht die Aktie auch Streubesitz und das Verteilen des Eigenkapitals auf viele Schultern.
- Schon lange gibt es in der Produktion die Fließfertigung, ebenfalls ein bemerkenswertes Beispiel für Zerlegung. Hier wird der Herstellungsprozess eines Gutes in Schritte unterteilt. Diese Schritte sollten möglichst zeitlich gleich umfangreich sein, wenn auch große inhaltliche Unterschiede zwischen den Tätigkeiten, die den einzelnen Schritten zugeordnet sind, bestehen dürfen. Eine Fortführung des ursprünglichen Zerlegungsgedankens ist im Supply-Chain-Management erkenntlich. Im Gegensatz zur klassischen Fließfertigung, bei der die Schritte zumeist innerhalb eines Betriebes durchgeführt wurden, wird nun auch die Entstehungsumgebung zerlegt, also beispielsweise auf unterschiedliche, regional und organisational getrennte Einheiten aufgeteilt.
- Auch im Marketing findet die Zerlegung Anwendung im Rahmen der Kundensegmentierung. Ausschlaggebend ist hier der Wunsch, eine heterogene Menge von Kundinnen und Kunden in mehrere homogenere Mengen aufzuteilen, so dass sich die homogeneren Mengen gezielter ansprechen lassen. Heutzutage ist die Kundensegmentierung angetrieben durch soziale Medien und Suchmaschinendaten so weit fortgeschritten, dass bereits einzelne Personen als Zielsubjekt angesehen werden können.
Erfindungen innerhalb der Betriebswirtschaftslehre wurden von Unternehmerinnen und Unternehmern, aber auch von Forschenden initiiert. Erfindungen sollten daher in den verschiedenen Teildisziplinen nicht nur als Externalitäten wahrgenommen werden, sondern technikaffines Denken sollte (nicht nur in der Wirtschaftsinformatik) integraler Bestandteil betriebswirtschaftlichen Denkens, Handelns und Forschens sein. Zugleich sollte es Gegenstand betriebswirtschaftlicher Lehre werden. Wir sollten den künftigen Generationen nicht nur die sozialwissenschaftliche Seite unseres Faches zeigen, sondern sie auch zu mutigem, erfinderischem Denken anleiten.
Martin G. Möhrle, Universität Bremen
Quellenangaben:
1 Altschuller, Genrich Saulowitsch (1998): Erfinden - Wege zur Lösung technischer Probleme, 3. Auflage. Cottbus: PI - Planung und Innovation.